Nordberlin Maskulin - Best of 2012: VfB-Lbeck-Ultras 11FREUNDE

Ich trage die richtigen Schuhe. Vielleicht auch die richtigen Narben. Allein, der Junge mit der grün-weißen Trainingsjacke weiß nicht, dass ich mir die Verletzung an der Stirn zuzog, als ich einmal vom Schreibtisch meines Vaters auf die Lehne eines Holzstuhls fiel. Ich war damals vier Jahre alt.
„Du bist doch auch Fußball“, sagt der Junge, der vom Alter her mein Sohn sein könnte und vor dem Berliner Poststadion herumstreunt. An der Backsteinfassade steht seine Gruppe, grün-weiße Schals, noch mehr Trainingsjacken, Ultras, Anhänger, Fans, was auch immer. Daneben ein paar Polizisten. Heute spielt hier der Berliner AK gegen den VfB Lübeck, Vierte Liga. Ich warte am Kassenhäuschen. Bin ich also Fußball? „Ich bin HSV-Fan“, sage ich.
„Stellt euch nicht in unseren Block, könnte böse enden“
„Hab ich gleich erkannt“, sagt er. „Fußball. Casual. Adidas-Sneaker.“ Dann grinst er und ich denke, dass er mit Fußball nicht Fußball, sondern „Fußball“ meint, und dass ich Glück habe, nicht Fan von Holstein Kiel zu sein. „Wie wär’s: Kleines 10 gegen 10?“, fragt er dann. Ich sage, es käme nur noch ein Freund, und dass ein 10 gegen 10 so nicht möglich sei. „Ein Freund? Auch Hamburger?“ – „Nein, Engländer. London.“ – „Stellt euch nicht in unseren Block, könnte böse enden. Wie das letzte Mal mit den Typen aus Neumünster.“
Sein Kumpel, der sich unmerklich neben uns gestellt hat, trägt auch grün-weiß. Trainingsjacke. Er tut nichts weiter, als mich zu mustern. Ich trinke Limonade, er Bier. 1:0 für ihn. Schließlich blickt er einem ausgemergelten Senioren hinterher, der mit seinem sehr rostigen Hollandrad über das Kopfsteinpflaster durch das Stadiontor fährt, Schultheiss-Fahne, tiefe Augenhöhlen. Bekannt aus jeder x‑beliebigen Eckkneipe und doch irgendwie aus der Zeit gefallen. Der Junge ruft: „Zum KZ geht’s in die andere Richtung!“ Gelächter. Der Junge, bekannt aus jedem x‑beliebigen Stadion, ist vielleicht 18, 19. Er sieht kastenförmig aus, kompakt.
Die neue Kampagne: RUN BAK!
Das Poststadion liegt im Berliner Stadtteil Moabit, hier fanden in den dreißiger Jahren Endspiele um die Deutsche Meisterschaft statt. Damals hatten 45.000 Zuschauer Platz. Heute passen 10.000 hinein. Bis vor vier Jahren kooperierte der BAK mit dem türkischen Verein Ankaraspor, zwischen 2006 und 2011 hieß der Klub deswegen Berlin Ankaraspor Kulübü. Vor eineinhalb Jahren erreichte die Mannschaft die erste Runde des DFB-Pokals, das Spiel gegen Mainz 05 ging knapp mit 1:2 verloren. Damals, im August 2010, stand der Teheraner Bahman Foroutan an der Seitenlinie. Ein Star-Coach. Er hatte in den achtziger Jahren mal die iranische Nationalmannschaft trainiert.
Seit April 2011 steht BAK wieder für Berliner Athletik Klub. Die Mannschaft hält sich wacker im Mittelfeld der Regionalliga-Nord, zu den Spielen kommen selten mehr als 100 Fans. Heute sind es immerhin 350. Es ist gutes Wetter, der Gegner hat einen attraktiven Namen. Auf der Haupttribüne stehen Männer mit Migrationshintergrund, mit Schnurrbärten, mit Bäuchen, daneben Kinder, Mütter, ein paar Touristen, eine Handvoll Fans.
Der Kaffee ist okay, die Wurst ledrig. Die Kartenverkäuferin steht eine Minute nach dem Anpfiff an der Bude und drückt die Senftube. Daneben ein Stand, an dem sie die neue Merchandise-Kollektion des Klubs feilbieten. Es gibt T‑Shirts, auf denen „RUN BAK“ zu lesen ist, nachempfunden dem Schriftzug der HipHop-Band RUN DMC. Ein etwa vierjähriger Knirps streift sich das kleinste Shirt über, es sieht aus wie ein Nachthemd.
Die verletzten Spieler, die heute auf der Sitzplatztribüne Platz nehmen, tragen ähnliche Frisuren wie Marco Reus, ihre Spielerfrauen ähnliche Klamotten wie Victoria Beckham. Nur die Autos sind kleiner und die Frauen balancieren auf ihren hohen Absätzen eher, als dass sie elegant den Weg zum VIP-Raum entlang stöckeln. Irgendwo da hinten auf der anderen Seite, hinter einem Zaun zwischen Gegengerade und Kurve, stehen die Ultras vom VfB Lübeck. Der Engländer sagt: „Fußballfans! Jugendliche! Ach!“ Wir gucken das Spiel. Ein wendiger Mittelfeldmann trifft mit einem Fernschuss die Latte. Applaus.
„Kein Ärger, können Sie mir sagen, wo ich Gurken im Glas finde?“
Zur Halbzeit steht es 0:0. Drüben bei den VfB-Ultras weiterhin Gesänge. Fahnen, Transparente. Aber auch: Langeweile. Viertliga-Tristesse. Der Blonde und der Kastenförmige stehen auf einmal wieder neben uns. „Kein Ärger! Ist das dein Kumpel aus England?“, sagt der Blonde. Ob er sich auch im Supermarkt so erkundigt: „Kein Ärger! Aber können Sie mir sagen, wo ich Gurken im Glas finde?“
Er guckt nun etwas enttäuscht. Denn der Engländer ist kein 120-Kilo-Bushwacker-Hool aus London-Millwall, nicht mal Hool, nicht mal dick. Er ist mit dem Mountainbike nach Moabit gekommen und trägt eine Radlerhose. Die unruhigen Jungs ziehen von dannen, stromern vorbei an den Kindern, Rentnern und Müttern. Sie sind zu dritt. Das Bier fest umklammert. Sie sind auf dem Weg. Auf der Suche nach dem Abenteuer. Nach Leuten, die ihre Männlichkeitsrituale goutieren. Doch es ist wenig los hier im Poststadion. Es ist nichts los. Es ist ein Regionallligakick im Norden Berlins. Es ist, ja, es ist Fußball, und das ist für so einen Sonntagnachmittag im Grunde genommen völlig ausreichend.
Das Wort „Pisser“ fällt
Die Drei entern mit einem Satz die Sitzplatztribüne. Dort, wo eine Gruppe von Kindern sitzt, dort, wo drei Victoria Beckhams ihre Nägel vergleichen. Am Fuße der Tribüne versammeln sich prompt verschiedene Sicherheitskräfte. Sie fordern die drei Ausreißer auf, zurück auf die Stehplätze zu gehen, zurück in ihren Block. Mit einem Mal stehen dort drei Ordner, sieben Polizisten und die drei Jungs. Sie diskutieren. Etwa darüber, wer wen angefasst hat und wer wen nicht hätte anfassen sollen. Oder darüber, wer denn nun eine feuchte Aussprache hätte und dass man doch von Anfang an gesagt habe: „Kein Ärger!“ Und dann stellt jemand die Frage, ob die Drei abgeführt werden sollen, weil sie keine Sitzplatzkarten gekauft hätten. Da werden sie wütend. Das wäre ja schließlich ein Stadionverbot. Das Wort „Pisser“ fällt.
Nun wird der Fanbeauftragte des VfB Lübeck um Hilfe gebeten. Er tritt väterlich auf. Beruhigend. „Pisser“, sagt er zu den Jugendlichen. „Pisser sind das schon mal gar nicht!“ Dann schiebt er den Kastenmann, den Blonden und einen dritten Jungen zurück in ihren Block. Der Engländer trinkt Kaffee und unterhält sich mit einem Antiquitätenhändler über Holzmaserung. Dann fragt er: „Kehren die Jugendlichen nun als Helden heim?“
Der Kastenmann täuscht einen Schlag an – in die Luft
Das Spiel endet 0:0. Die Mannschaften werden beklatscht. Die VfB-Spieler bedanken sich beim mitgereisten Anhang. Ich gehe auf Toilette in der angrenzenden Turnhalle. Die verletzten Spieler drücken sich in ihre Autos und die Victoria Beckhams achten darauf, dass sie mit ihren Absätzen nicht im rissigen Asphalt hängenbleiben. Am Eingang steht wieder Polizei, sie begleitet die VfB-Ultragruppe zum Hauptbahnhof. Die Fans singen „Blau-Weiß Berlin!“, Blau-Weiß Berlin spielte in der Saison 1986/87 in der Bundesliga. Danach ging es bergab, der Klub löste sich auf. Ein Nachfolgeverein spielt heute in der Bezirksliga. Noch einmal: „Blau-Weiß Berlin!“
Der Kastenmann taucht mit einem Mal zehn Meter von uns entfernt auf. Er taumelt. Er versucht, seinen Bierbecher zum Mund zu führen. Er ruft: „Und nun? Und nun?“ Wir sagen nichts. Dafür spricht er. Mit einem Mal fallen die Worte aus seinem Mund. Er schreit: „Mach dich mal gerade!“ Und dann täuscht er einen Schlag an. Seine Schulter zuckt dabei so langsam, dass man das Gefühl hat, er habe sich selbst in Superzeitlupe abgespielt. Wir schließen die Fahrräder auf. Dann flüstert der Engländer: „Kein Ärger.“
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